Parasitäre Architektur-oder nehmen um zu geben

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Max Bächer sagte einmal im Rahmen eines Vortrags an der TU Kaiserslautern:
„Meine Position entsteht aus der Konsequenz der Opposition.“ Diese Haltung scheint mir die Existenzgrundlage parasitärer Architektur zu sein.

Parasiten sind
•    gebauter Ausdruck von Transformationsprozessen im Stadtraum
•    polarisierend
•    so vielfältig wie ihre (Zwischen-)Nutzung
•    Produkt ressourcenorientierter und somit nachhaltiger Planungsprozesse
•    verdichtende Strukturen im Stadtraum
•    grenzüberschreitend und somit grenzauflösend
•    Ausdruck von kreativer Aneignung des urbanen Raumes
•    Akteure einer wandelbaren Stadt

Parasitäre Bauten gab es schon im Mittelalter: Die Piazza in Lucca, eine assimilierte römische Arena. Die Mezquita-Catedral de Córdoba, der Einbau einer Basilika in eine der bemerkenswertesten Moscheen Europas.

Die Notwendigkeit der Anwendung von Parasiten als Architekturen formuliert Oswald Matthias Ungers 1966 in seinem Artikel “Großformen im Wohnungsbau”. Er begründet das Bauen von Großformen wie folgt: „Die Großform schafft den Rahmen, die Ordnung und den geplanten Raum für einen unvorhersehbaren, nicht planbaren, lebenden Prozess, für eine parasitäre Architektur. Ohne diese Komponente bleibt jede Planung starr und leblos.”
In diesen undefinierten Raum greifen Archigram im selben Jahr mit ihrem „Living Pod“-Konzept ein. Der Living Pod ist jedoch noch auf Andockmodule angewiesen. Coop Himmelb(l)au entwickeln 1967 mit der „Villa Rosa“ einen Baukörper, der mit seiner Tragstruktur flexibel in einen Bestand einzugreifen vermag. Parasiten als architektonische Intervention im Stadtraum lassen jedoch noch auf sich warten. Erst 1996 lassen Kas Oosterhuis und Ilona Lénàrd ihren „paraSITE“ – einen aufblasbaren Pavillon in Form eines Luftschiffs – in europäischen Städten andocken, Informationen der Stadträume sammeln und anschließend präsentieren. Die Rotterdamer Architekten Korteknie-Stuhlmacher nutzen 1999 die Parasit-Strategie, um mit ihrem giftgrünen LP2 auf den Leerstand und das Konversionspotential eines ehemaligen Kaufhauses hinzuweisen. Dies ist der Ausgangspunkt für ihre Parasite-Foundation. Es handelt sich dabei um ein offenes Labor für Interventionen im Stadtraum, die den Parasiten eine Renaissance beschert. Diese dauert etwa bis 2006 an und endet mit der Tour des Everland-Hotels 2002-09. Der klassische Parasitbau findet seitdem nur noch wenig Anwendung, ist jedoch Ausgangspunkt für zwei gegensätzliche Formen des Umganges mit Potentialen im Stadtraum geworden: strategische und lokale Intervention.

Die strategische Intervention weitet die Signalfunktion des Parasiten auf den Stadtraum aus statt ein einzelnes Gebäude zu thematisieren. Sie ist auf lange Sicht ausgelegt, aufwändig und inflexibel. Ein Beispiel hierfür findet sich in der Hamburger Elbphilharmonie von Herzog & DeMeuron: Der ehemalige Kaispeicher A erhält eine gläserne Krone, von der sich die Hamburger Bürgerschaft eine Initialzündung für die Hafen City verspricht. Der Ausbau jedoch verschlingt seinen Wirt. Der Kaispeicher wird entkernt und zum Parkhaus degradiert. Die Krone sprengt alle finanziellen und zeitlichen Pläne: Die geplante Eröffnung 2009 ist ebenso hinfällig wie der Finanzrahmen von ursprünglich 77 mEuro (z.Zt. 476 mEuro). In Zeiten, in denen Stadträume von Initiativen und der Verantwortung vieler Einzelner interpretiert und überformt werden erscheint ein derart kolossales Projekt fragwürdig.
Bei der lokalen Intervention dagegen, einem Eingriff auf engstem Raum, sind die Projekte informell, kurzlebig, oft nicht mehr als urban Design oder Pet Architecture. Sie übernehmen Verantwortung für den städtischen Raum, polarisieren und erzwingen eine gedankliche Umbewertung der Situation. Gelingt diese, so eröffnen sich architektonische und gewerbliche Perspektiven. Pet Architecture wird vom Atelier Bow-Wow in Tokio näher erforscht. Es handelt sich um die Ausnutzung kleinster Flächen im städtischen Raum, etwa in Form von fliegenden Gewerbebauten, Imbissbuden, Minihäusern. Gegenteilig zum informellen urban Design oder der Street-Art ist Pet Architecture konform zur Baugesetzgebung. In ihrer Ausführung ist sie jedoch „wie gewollt und nicht gekonnt“, bruchstückhaft und unerwartet. Dennoch ist sie anrührend und zuweilen inspirierend, weil die Gebäude sehr deutlich den Wert auszudrücken, den der Ort für den Besitzer hat. Pet Architecture ist unvollständig und billig, Yoshiharu Tsukamoto spricht mehr von Nutz- denn von Bauwerken. Pet Architecture illustriert, mit welcher Energie und unbändigen Freude Einzelne ihren Lebensraum gestalten, Verantwortung für den Stadtraum übernehmen und den Wert des Raumes zu steigern vermögen – ein Phänomen, das der Stadtforschung eher aus bestimmten Slumformen bekannt ist.

Sind Parasitbauten heute noch aktuell? Selbst wenn es sich heute eher um vollwertige Dachausbauten, Anbauten oder signalstarke Umnutzungen handelt, ist die Aktualität dieser Interventionsstrategie in der Architektur ungebrochen. Ob Pilotprojekt mit Fanalfunktion oder  Stegreifentwurf für einen kleinen Gewerbebetrieb: Auch heute noch prägen die Nachfolgemodelle der parasitären Architektur unseren Stadtraum, auch heute noch können wir mit ihnen Potenziale der Stadt aufzeigen.