“Was löst eine Raumsituation in mir aus und warum?” Ist eine der Grundfragen der Architektur. Wie können räumliche Situationen genutzt werden um bestimmte Empfindungen hervorzurufen oder die Wahrnehmung in bestimmte Bahnen zu lenken? In der extremsten Ausprägung entsteht ein räumliches Kunstwerk, das durch die geringste Umstellung eines Einrichtungsgegenstandes aus seiner Balance geworfen wird, beim Betrachter Irritationen auslöst und den Bewohner selber zum Fremdkörper werden lässt. Ein Umstand, der Edith Farnsworth bekanntermaßen dazu veranlasst haben soll, das von Mies van der Rohe erbaute Wochenendhaus in Illinois als schlichtweg “unbewohnbar” zu titulieren, da man darin keinen Kleiderbügel aufhängen könne ohne sich Gedanken darüber machen zu müssen, wie das nach außen hin wirke.
Worin ist es begründet, dass durch den Einsatz grüner Farbe in Büroräumen die wahrgenommene akustische Belastung spürbar reduziert wird? Warum werden von Büromitarbeitern, subjektiv bewertet, Schreibtische mit einer schwarzen Tischplatte solchen mit einer grauen vorgezogen? Warum reduzieren aber, objektiv gemessen, genau diese schwarzen Tischplatten die Leistungsfähigkeit der Büromitarbeiter spürbar? Fragen, deren Beantwortung im ersten Moment nur trivial-praktischen Nutzen zu haben scheint. Wenn es jedoch darum geht, eine schlüssige Argumentation für oder gegen eine Gestaltungsentscheidung zu führen, haben wir Architekten gegenüber den zahlen-basierten Argumenten von gewerblich orientierten Bauherren oft ein Nachsehen. Unser Wissen um die Wirkung von Gestaltung ist zumeist tradiert oder entspringt, im besten Fall, empirischen Erkenntnissen. Die Begründung von Gestaltungsargumenten wird noch immer viel zu selten mit quantitativen Belegen untermauert. Die Architekturpsychologie, verstanden als „Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen in gebauten Umwelten“ (Definition nach P. G. Richter in “Architekturpsychologie – Eine Einführung”. Erstauflage. Lengerich: Pabst Science Publishers, 2005), kann uns Architekten als verbindende Disziplin eine bedeutende Hilfestellung bieten.
“Was macht das mit mir (meinem Gegenüber)?” Mag man, klischeehaft formuliert, als die Grundfrage der Psychologie bezeichnen. Obwohl sich diese Frage kaum von den architektonischen Grundfragen unterscheidet, sind die gewählten Werkzeuge der beiden Disziplinen kaum vergleichbar. Dem iterativen Gestaltungsprozess könnte der Prozess der wissenschaftlichen Erhebung, Auswertung und Aufbereitung statistischer Daten zur Wirkung (räumlicher) Phänomene auf den Menschen kaum ferner liegen. Daher verwundert es auch kaum, dass zwischen den ersten deutschsprachigen Publikationen im Jahr 1975 (D. Canter, “Architekturpsychologie”. Band 35 in der Reihe Bauwelt-Fundamente, Birkhäuser Verlag, 1975) und dem Wiederaufkeimen des Interesses, von Seiten der Architekten, an der Architekturpsychologie dreißig Jahre vergangen sind.
In diesem Zeitraum haben bedeutende Entwicklungen im Bauwesen stattgefunden. Diese haben ihrerseits das Anspruchsdenken von Bauherren, Baufinanzierern, Baugewerbetreibenden und Baugesetzgebenden nachhaltig beeinflusst. Die wissenschaftliche Begleitung und Aufarbeitung dieser Entwicklungen fand jedoch in der architektonischen Fachwelt kaum Beachtung. Die andauernde, kontrovers geführte Diskussion der letzten Jahre um die Entwicklung von Innenstädten, die Ansiedlung, Planung und Gestaltung von Flughäfen, Bahnhöfen, Krankenhäusern und Seniorenzentren zeigt, dass der Bedarf an fundiertem Wissen über die Wirkung von Raumsituationen und die dazugehörige Vermittlung gestiegen ist.
Insbesondere beim Bau von Krankenhäusern besteht ein hoher Bedarf an Räumen, die keine klinische Sterilität vermitteln. Patienten haben das Bedürfnis nach einer Atmosphäre, die ihnen Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit vermittelt und somit ein Gefühl, das der Genesung förderlich ist. Die in Krankenhäusern vorherrschende Atmosphäre ist hingegen geprägt von den technisch-medizinischen Anforderungen und der erheblichen Nutzungsdichte, die mit den Erfordernissen einer wirtschaftlichen Geschäftsführung einhergeht. Bei den Patienten entsteht oft der Eindruck des Verlusts des menschlichen Maßstabs. Diese Brüche treten in der klinischen Psychiatrie besonders zu Tage. Seit Ende der 90er Jahre werden vermehrt Ansätze verfolgt in denen man geschlossene Abteilungen öffnet, abgelegene psychiatrische Großkliniken schließt und als kleine, dezentrale Abteilungen in den allgemeinklinischen Betrieb integriert. Dadurch wird der Stigmatisierung von Psychiatriepatienten entgegengewirkt, Akzeptanz für Psychiatrie geschaffen und Behandlungs-Compliance erhöht. Zahlen von Suiziden, Aggressionen und Zwangseinweisungen sinken nachweislich.
Ein gelungenes Beispiel für eine Denkweise, die noch weiter geht, findet sich im Soteria-Konzept (aus dem Altgriechischen für Wohlergehen, Schutz, Geborgenheit). Es wurde 1971 von dem Psychiater Loren Mosher in Kalifornien aus der anti-psychiatrischen Bewegung heraus formuliert und 1984 vom Schweizer Psychiater und Schizophrenieforscher Luc Ciompi in Bern eingeführt und erweitert (“Was ist Soteria? Eine Standortbestimmung”. Nervenheilkunde 2017; 36: 874-879). Kern der Idee ist es, Menschen in psychischen Krisen eine stabile, behütende Umgebung (sog. Milieutherapie) zu bieten die auf Freiwilligkeit basiert, nicht entmündigt und den Patienten die Möglichkeit bietet, einen normalen Alltag zu erleben. Die Gestaltung der Umgebung und die Betreuungskonzepte sind auf eine andauernde Begleitung (48-Stunden-Schichten) durch “Laien” und Mediziner und nachhaltige emotionale Entspannung ausgelegt. Durch diese Maßnahmen wird auch ein geringerer Einsatz von Psychopharmaka nötig. Die Raumgestaltung ist unterstützender Teil der therapeutischen Konzepte. Atmosphäre dient als Mediator in der zwischenmenschlichen Kommunikation. Räume sollen so beschaffen sein, dass man sich gerne in ihnen aufhält. Sie sollen die Möglichkeit zum Rückzug bieten. Räume sollen der Therapiegemeinschaft im Rahmen eines strukturierten Tagesablaufs die Möglichkeit bieten, ihre Tätigkeiten selbstverantwortlich zu verrichten. Räume spiegeln die familiäre Atmosphäre der Therapiegemeinschaft wieder. Die Familie der Betroffenen wird stark in das therapeutische Geschehen integriert. Arztbüros liegen außerhalb. Visiten werden nicht abgehalten. Ziel ist es, sowohl im Umgang miteinander als auch in der Architektur eine Atmosphäre des Häuslichen entstehen zu lassen.
Beispielhaft in der Umsetzung dieses Konzeptes ist die Soteria der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin von thinkbuild architecture BDA aus dem Jahr 2015. Die Soteria ist kein Neubau, sondern ein Umbau einer ehemaligen internistischen Station im 2. Obergeschoss. Diese ist geprägt von krankenhausüblichen Einbauten wie Versorgungs- und Medienleisten, Handläufen, Schrammbords und Kantenschutzprofilen. Im Rahmen der Planungsphase wurden zwei Gruppen von Patienten und Klinikmitarbeitern befragt, welche Gestaltungselemente sie für wichtig erachten. Die Ergebnisse der Befragung flossen in den iterativen Planungsprozess mit ein. Materialität und Farbgebung wurden mit dem Ziel ausgewählt, eine wohnliche Atmosphäre aufkommen zu lassen. So wurde bewusst Holz verwendet. Ein Material das, hygienisch bedingt, in Krankenhäusern nicht zur Anwendung kommt. Auch auf Elemente, die durch die Berliner Krankenhausverordnung vorgeschrieben sind, wie Rammschutz an Türen und Handläufe entlang der Wände wurde, mit behördlichem Dispens, bewusst verzichtet. Den Anforderungen der Raum- und Stationsbeschilderung wird zwar Rechnung getragen, doch wird diese durch große Ziffern an den Türen grafisch in den Hintergrund gerückt. Die Patientenzimmer sind einfach gehalten. Die Versorgungsleisten sind mit Holz ummantelt und als Leuchten ausgebildet. Betten und andere Möbel sind wie einem Hostel gestaltet und können umgestellt werden. Die Räume dürfen durch die Nutzer mit eigenen Bildern versehen werden. Einfache Farbgebung mit intensiv-farbigen Tönen auf klar umrissenen Flächen in Verbindung mit kräftigen Lichtquellen geben jedem Raum eine eigene Atmosphäre.
Das Verständnis um die getroffenen Maßnahmen ist Teil des alltäglichen Architektenwissens. Die Erforschung der dazugehörigen Grundlagen findet, in Deutschland, auf hohem Niveau an mehreren eigenen Lehrstühlen für Architekturpsychologie, so. z.B. in Berlin und Dresden, statt. Beide Disziplinen können von enormen Synergieeffekten profitieren, wenn sie auf das jeweilig angesammelte Wissen zugreifen.
Text: Paul Mocanu
Nützliche Links zur Architekturpsychologie:
http://www.architekturpsychologie-dresden.de/ddarbeiten.html
http://architekturpsychologie-tub.de/architekturpsychologie/
https://architekturpsychologie.blogspot.de/
https://thinkbuild.com/
http://kopvol.com/
https://www.swr.de/herzenssache/projekte/initiative-fuer-unsere-kinder-und-jugendklinik/-/id=3025730/did=20105734/nid=3025730/13n7j0r/index.html