Fast ausnahmslos verspüren die Kulturen der Menschheit das Bedürfnis, zu glauben und Orte zu schaffen, die das Glaubensbild fassen oder kommunizieren. Glaube hat unzweifelhaft zu den größten Kulturleistungen der Menscheit geführt. Der Wechsel vom heiligen Ort zum heiligen Raum stellt auch eine der tiefgreifendsten Veränderungen im Umgang mit Raum dar. Der in der Natur integrierte Kultort, z.B. das Thingvellir in Island, wird gewandelt zum artifiziellen und inszenierten Raum. Die Inszenierung existiert auch in den Naturheiligtümern, jedoch wird sie in dem Moment unabdingbar, in dem ein Sakralraum entsteht. Beispiele hierfür sind das „Haus des Wassers“ in Eridu, die Tempel der griechischen Poleis und die römische Urbs. Im Gottesdienst der frühchristlichen Gemeinden in den Katakomben Roms wird die Inszenierung für kurze Zeit abgelegt. Die liturgischen Treffen in den Häusern der einzelnen Gläubigen sind konspirativ, die Existenz eines Altars kann den Tod [in der Arena] zur Folge haben. Die Darstellung der Leiden des Herrn sind krude Bilder an den Wänden der Kanalisation. Mit der Akzeptanz und Einführung als Staatsreligion tritt die christliche Kirche das Erbe der Inszenierung an, indem sie die vakanten Sakralräume annektiert. Zeitgleich beginnt ein bis heute andauerndes Wechselspiel mit profanen Raumstrukturen. Industriebauten wie die Sayner Hütte, Konsumbauten und Banken beziehen starke Impulse aus dem Sakralbau. In anderen Kulturen entsteht sakraler Raum aus grundlegend anderen Strukturen und zumeist in enger Verbindung mit der umgebenden Landschaft. Sportstätten als Sakralräume sind seit den mesoamerikanischen Ballfeldern, z.B. um Chichén Itzá, bekannt. Dass Sportereignisse im Stadion sakral wirken können, ist mittlerweile auch bei uns anerkannt. Der unüberschaubare Weg des Lebens und Glaubens wird im Buddhaschrein von Borobudur auf Java thematisiert. Von unten ist die Spitze und von oben die Basis nicht zu sehen. Die Verbindung zwischen Glaube und Gesellschaft, exemplarisch in den Hopi- und Navajodörfern, ist außerhalb des Christentums deutlich stärker, im Bau der Moscheen untrennbar. Seit der Aufklärung wurde der Glaube diskreditiert, seine Bauten nutzlos.
Das menschliche Bedürfnis nach einem Sinn im Leben besteht jedoch weiterhin. Der Heterogenisierung unserer Gesellschaft steht mit der Kirche und deren Räumen ein vermeintlich sehr inflexibles Konstrukt gegenüber: Gerade die großen Kirchen bestimmen sehr oft über ihr Dogma den Raum und was darin passieren soll, was jedoch die Gläubigen immer weniger anspricht – sie fühlen sich oft bevormundet und wollen selbst entscheiden Das Bedürfnis nach Inszenierung ist von der Gemeinde auf den Einzelnen übergegangen und gerät hier zum Dilemma. Die eigene Hochzeit wird an einem als besonders geeignet empfundenen Ort zelebriert. Die Gäste werden mitgebracht. Dass hierbei das Event vor den Glaubensakt rückt, wird von den Feiernden nicht als Problem wahrgenommen. Ein Bezug zur Heimatgemeinde als Gemeinschaft der Gläubigen existiert ohnehin kaum noch. Mit anderen Gemeindeformen versucht die katholische Kirche diesem Denken Rechnung zu tragen und, frei nach 1. Petr. 2,5, eine „Gemeinde der lebenden Steine“ zu schaffen – eine Gemeinde, in der in einem Zentralraum alle aktiv zum Gottesdienst beitragen. Infolge dessen leidet die Kirche seit dem 2. Vatikanischen Konzil für ihre Gegner unter Formlosigkeit, freundlichem Getue und bemitleidenswerter Rührseligkeit. In welcher Form kann sakraler Raum heute diesem Dilemma entgegen wirken?
Ein mögliches Instrument scheint die Vermittlung durch künstlerische Reinterpretation zu sein. 1995 veranstaltete James Lee Byars in St. Peter, Köln die „White Mass“.Ein kultisches Experiment, bei dem der Priester zum Altar, zum Performance-Künstler wird. 2004 wird, wieder in St. Peter, ein „Altar“, das „Curuz-Altare“ von Eduardo Chillida, von der katholischen Kirche zum Kunstgegenstand zurückgestuft. Das dreigeteilte Kreuz-Altar-Objekt hatte auf die Altarplatte verzichtet und den Priester dazu angehalten, diese Leere performativ zu füllen. Künstler können und müssen das tun, was der katholisch geprägte Kirchenraum nicht mehr kann: unangenehme existenzielle Fragen stellen oder auslösen. In diesem Kontext steht auch die Frage nach einem Leitbild der Kirchenbauten in einer bilddurchfluteten Welt. War in der Romanik die Kirchenburg, in der Gotik das himmlische Jerusalem jeweils das Bild der Kirche, so tut heute vielleicht eine Bildlosigkeit Not. Die 1998-2002 errichtete St. Canisius-Kirche in Berlin Charlottenburg ist ein solcherart bildloses Gebäude. Licht und Schatten stimulieren den Besucher dazu, seine eigenen Inhalte zu generieren. Die Ise-Schreinanlage ist 2000 Jahre alt und keine 20. Alle 20 Jahre werden die Tempel und Schreine baugleich völlig neu, völlig gleich hergestellt. Was aus bautechnischen Gründen in Japan passiert kann vielleicht dazu dienen, uns ein neues und gleichzeitig uraltes Bild der Kirche zurückzugeben: Indem wir gemeinsam unsere Kirche erbauen. Die Arbeitsinitiative Kirchentrojaner macht dies seit 2007 in der Stuttgarter Martinskirche. Zwischen Palmsonntag und Pfingsten gestalten Jugendliche in einem Workshop mit den Architekten und Künstlern zusammen den Kirchenraum. – Schafft es die Kirche nicht, Menschen mit ihrem (Raum-)Programm anzuziehen, muss sie wieder dahin gehen wo Menschen sind. Fußballstadien, Autobahnraststätten, Shopping-Malls oder Großereignisse sind sicher nicht die falschen Orte. Paul Mocanu Heilige Räume Moderne Sakralarchitektur http://www.zeit.de/kultur/2011-03/fs-religioese-architektur