Erfahrungen mit dem Age Explorer
Ich fühle mich richtig knackig. Schon nach zwanzig Minuten scheint es mal hier und mal dort zu knacken, und ich spüre die Last der Jahre auf meinen Knochen. In zehn Minuten bin ich um 40 Jahre gealtert.
Was sich nach einem spannenden Science-Fiction-Film anhört, ist tatsächlich Realität.
Ich stecke in einem Alterserforschungsanzug, der mich auf Zeit altern lässt. Gewichte, Bandagen, besondere Handschuhe sowie ein Spezialvisier lassen mich die altersbedingten Einschränkungen des Körpers nachempfinden. Ich bin plötzlich 80 Jahre alt.
Ich habe mir vorgenommen typische Alltagssituationen zu erleben. Für gewöhnlich denke ich nicht weiter darüber nach, wenn ich mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahre. Dann schwinge ich mich auf mein Rad und düse zum nächsten Supermarkt, um ein paar fehlende Nahrungsmittel einzukaufen. Meistens schaffe ich es dann noch schnell bis ein paar Freunde zu Besuch kommen oder meine Lieblingssendung im Fernsehen beginnt.
Doch nun ist alles anders. Ich habe das Gefühl, dass „Älterwerden heißt, dass alles geschieht, was Du niemals für möglich gehalten hättest.“
Bereits auf dem Weg zum Fahrrad bemerke ich, dass meine Bewegungsabläufe nicht in gewohntem Maße möglich sind. Mein Gang, der sonst immer beschwingt und flink ist, hat sich nun zu mühsamen, unsicheren und schlurfenden Schritten geändert. Schuld daran sind 10 kg zusätzliches Gewicht des knallroten Anzugs, den ich trage, und der die Abnahme der Kraft im Alter simuliert.
Das Visier des Helmes ahmt die Trübung der Linse nach, so dass der unruhig gemusterte Steinboden im Hausflur meine Augen irritiert und mir einen schwankenden Eindruck vermittelt. Die Einschränkung des Koordinationsvermögens und mein plötzlich nachlassender Gleichgewichtssinn zeigen sich in meinem torkeligen Gang, von dem ich meine, dass er auf andere wirken müsste, als hätte ich zu tief ins Glas geschaut.
Noch bevor ich richtig begonnen habe, merke ich – ich bin alt.
Als mein eigentliches Vorhaben nun endlich seinen Anfang nehmen soll und ich mich auf mein Fahrrad ‚schwingen‘ möchte, zeigt sich zynisch der Humor per se in dieser Situation. Das Schwingen wird zu einer langwierigen, beschwerlichen Tortur. Meine Knochen fühlen sich schwer und ungelenk an, als ich versuche auf das Fahrrad zu steigen.
Die Fahrt auf dem Zweirad zeigt dann schon nach kürzester Zeit, dass ich deutlich weniger Leistung erbringe. Auch bemerke ich, dass diese sportliche Betätigung meine Herzfrequenz offenkundig früher ansteigen lässt und mein Herz-Kreislauf-System deutlich mehr belastet ist. Schon nach ein paar Minuten fühle ich mich wie nach einer halben Stunde Dauerlauf.
Viel mehr besorgt mich jedoch mein eingeschränktes Blickfeld, das das Resultat aus den sich an meinem Hals befindlichen Spezialmanschetten ist, und keine gewohnten Drehbewegungen des Kopfes zulässt.
Geräusche von anderen Verkehrsteilnehmern und Fahrzeugen nehme ich durch die im Helm integrierten Gehördämpfer nur sehr dumpf wahr. Vielmehr ist es ein fernes Summen, das mich ein wenig panisch werden lässt. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Situation, in der ich mich befinde, im Griff habe und muss mich darauf verlassen, dass die Menschen um mich herum mehr Herr ihrer Sinne sind als ich es bin.
Meine offensichtliche Unsicherheit lässt mich hoffen bald am Ziel angekommen zu sein.
Buchstäblich eingetrudelt, mache ich mich zu Fuß auf den Weg in den Supermarkt und werde angeschaut als käme ich vom Mond. Mein Astronauten – Look macht sich deutlich bemerkbar und weckt Aufmerksamkeit in meinem Umfeld. Ich fühle mich allerdings alles andere als schwerelos.
So bemerke ich meine nachgelassene Fingerfertigkeit beim Griff ins Kühlregal. Zur enormen Kraftanstrengung wird, das Produkt mit den Spezialhandschuhen – die das nachlassende, taktile Empfinden simulieren – im obersten Regal zu greifen. Meine steifen Glieder schmerzen und die Aufdrucke auf der Verpackung sind kaum lesbar. Die Schrift ist viel zu klein und unleserlich. Fast möchte ich mich beschweren. Auch das Etikett erscheint mir in seltsam trüben Farben, denn meine Farbwahrnehmung wird von einem monotonen Gelbton überlagert.
Als mich jemand bittet einen Schritt beiseite zu treten, um nach dem Produkt im Fach vor mir greifen zu können, reagiere ich zunächst nicht, da ich den Mann neben mir akustisch und optisch nicht wahrgenommen habe. Da ich für gewöhnlich sehr aufmerksam bin, bin ich nun über meine eigene sture, ignorant wirkende Art verärgert und beschämt. Ich weiß, würde ich nicht in dem Alterserforschungsanzug stecken, würde ich mir noch eine ganze Weile Gedanken über diese unangenehme Situation machen.
Da ich mir unglücklicherweise zum Einkaufen die Supermarkt-Rush-Hour ausgesucht habe, stelle ich mich in der langen Menschenschlange an der Kasse an. Das Stehen macht sich sichtlich bemerkbar. Das Gewicht, das auf meinen Knochen lastet, scheint mit jeder Minute größer zu werden und ich habe es eilig zum Kassenband zu gelangen, um endlich meine Ware darauf platzieren zu können.
Aus Gewohnheit habe ich natürlich nicht daran gedacht, im Vorfeld das Kleingeld zur Bezahlung aus meinem Portemonnaie zu suchen. Als ich dann endlich vor der Kassiererin stehe, muss ich zunächst zwei Mal den Betrag erfragen, um danach hektisch im Münzenfach zu wühlen, um die passenden Geldstücke herauszunehmen. Aufgrund des nebeligen, unscharfen Schleiers vor meinen Augen kann ich das Kleingeld nicht richtig erkennen. Das Greifen nach den Münzen schmerzt in meinen simulierten Gichtfingern und das Zwei-Euro-Stück entweicht meinem schwachen Griff, so dass es hinunterfällt.
Zu meinem Glück bückt sich die Frau hinter mir danach, während ihr Mann die Augen verdreht und etwas Ungeduldiges vor sich hinmurmelt. Ich fühle mich unwohl und möchte den Supermarkt möglichst schnell verlassen. Dass dies so rasch nicht möglich ist, daran gewöhne ich mich langsam. Sofern ich diese Strapazen täglich auf mich nehmen müsste, kommt mir bei der Vorstellung dieses beschwerlichen Alltages der Gedanke, dass ich es vorgezogen hätte zuhause zu bleiben. Altersbedingte, soziale Selbst – Isolation fällt mir dazu ein. Und das, obwohl ich mich mir selbst immer als agile, dynamische und muntere Seniorin vorgestellt habe. Langsam beginne ich daran zu zweifeln und fange an zu verstehen, dass man sich wohl im Alter nicht nur physisch, sondern auch zwangsläufig im Verhalten verändert. Man fühlt sich nicht mehr von der Gesellschaft gebraucht. Stattdessen gewinnt man vielmehr den Eindruck, man würde anderen zur Last fallen und ihre Zeit in Anspruch nehmen.
Mein abschließendes ‘Anti-Aging’ erleichtert mich gewaltig, als ich endlich den Alterserforschungsanzug ausziehe. Ich empfinde, als entledigte ich mich sukzessiv jedes einzelnen Jahres, das zuvor meine Knochen belastete und meine Gedanken dominierte.
Plötzlich fühle ich mich frei und das geflügelte Wort ‚wie neugeboren‘ zeigt sich mir in einer völlig neuen, konkret greifbaren Dimension.
Mir wird deutlich, dass ich in Zukunft das Leben nicht nur viel bewusster wahrnehmen und schätzen werde, sondern darüber hinaus ein viel höheres Maß an Verständnis und Geduld gegenüber alten Menschen aufbringen werde.
In unserer flüchtigen, hektischen und stressigen Umgebung werden Senioren in allen Lebensbereichen nicht adäquat einbezogen – und das, obwohl der demografische Wandel eine andere Sprache spricht und eine konträre Handlungsweise unerlässlich macht. 2060 wird jeder Dritte in Deutschland über 65 Jahre alt sein, jeder Siebte dann sogar über 80. Die Zahlen sprechen also für sich.
Zudem veranschaulichen sie deutlich die zielorientierte Handlungsnotwendigkeit aller Branchen auf diese immer älter werdende Gesellschaft zeitnah zu reagieren.
Generell ließe sich dies maßgeblich z.B. durch zielgerichtete, branchenspezifische Personalschulungen umsetzen, um unmittelbar und angemessen auf die Bedürfnisse älterer Menschen antworten zu können.
In diesem Zusammenhang ist es erforderlich geeignete Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die auf altersspezifische Verhaltensweisen und auf die Nachfrage dieser Nische eingehen.
Besonders Erfolg versprechend sind hierbei Produkte, die generationsübergreifend funktionieren. So können ältere Menschen z.B. Tablet-Computer für sich nutzen, da diese meist intuitiv und selbsterklärend funktionieren und aktivierbare Einstellungen – wie die Vergrößerung des Textes durch eine digitale Leselupe – bieten.
Bezüglich des Architekturbereiches liegt der Anspruch eines zukünftigen, altersgerechten Wohnens, aber auch der Bewegung im öffentlichen, gebauten Raum in einer vereinfachten Umwelt, um möglichst lange ein selbstständiges Leben zu ermöglichen.
Deshalb ist es als Architekt von Bedeutung, sich über altersspezifische, physische wie mentale Einschränkungen bewusst zu sein, um als Resultat baulich darauf reagieren zu können. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist hauptsächlich bauliche Details zu beachten. So erschweren mit zunehmendem Alter z.B. dunkle Farben das Orientierungsvermögen, nicht markierte Stufen werden schlecht wahrgenommen und das Greifen bestimmter Türklinken kann Schmerzen in den von Arthrose und Gicht betroffenen Hand- und Fingergelenken auslösen. Auch klare Farbkontraste und deutlich lesbare Schriften sind in diesem Zusammenhang eine wichtige Erfordernis.
Neben einem altersgerechten Wohnbereich und dem öffentlichen Raum sollte generell bei der Planung und Konzeption eines Gebäudes auch der Arbeitsplatz auf die Lebenssituation angepasste, sichere Arbeitsplätze und –bedingungen anbieten.
In all diesen Bereichen zeigt sich die nötige Selbstständigkeit, dessen Grad es für Senioren durch überdachte Strategien und Konzepte u.a. der Baubranche zukünftig auszuweiten gilt. Barrierefreies Bauen ist in diesem Rahmen bereits ein Schritt in die richtige Richtung, aufgrund des demografischen Wandels muss dieser Bereich jedoch noch optimiert und weiter entwickelt werden.
Indem die Möglichkeit besteht, in die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt von Senioren und ihrer physischen Kondition eintauchen zu können, ist der Alterserforschungsanzug definitiv hilfreich für anschließende, angemessene und bedürfnisgerechte Maßnahmen.
Generell bedeutend ist in diesem Zusammenhang der zusätzliche soziale Faktor an erforderlicher Empathie, die durch den Alterserforschungsanzug bestens vermittelt wird.
Oft lässt sich beobachten – und jeder wird es sicher in gewissem Maße von sich selbst kennen – dass junge Leute ältere Menschen nicht ernst nehmen. Sei es aufgrund einer verlangsamten Reaktionszeit, mehrfachen Verständnisnachfragen oder einem scheinbar ignoranten, sturen Verhalten. Durch die eigene Erfahrung solcher Hilflosigkeit durch den Alterserforschungssanzug können die Gründe dieser Handlungsweisen eruiert und Missverständnisse eliminiert werden. Somit trägt dieses Selbstexperiment als wertvolle Erfahrung zu mehr Verständnis, Respekt, Höflichkeit und Komfort bei und kann zu einer – unter dem sich abzeichnenden sozialen Wandel – bedürfnisgerechten Umwelt führen.
„Wer [also selbst sehr] alt werden will, muss beizeiten damit anfangen.“
Autorin: Sabine Alvermann